Gerade erst aus dem Alpenurlaub zurückgekommen, vermisste ich die Berge im saarländischen Flachland auch gleich schon wieder und wünschte mir nichts sehnlicher als ein baldiges Wiedersehen. Da kam der Vorschlag eines Laufkollegen wie gerufen: Mitfahrgelegenheit zum Trail du Vélan im Schweizer Wallis. Freitags hin, samstags laufen, sonntags wieder zurück. Anfangs war ich noch ein wenig skeptisch: ganz ohne Akklimatisierung so einen schweren Trail mit immerhin 46 km und 3.600 m D+, mit dem höchsten Punkt auf über 3.000 m zu laufen? Dazu die lange Autofahrt hin und zurück – naja, einmal kann man das ja „mal“ machen und mein Aufenthalt in den Alpen lag ja auch noch nicht so lange zurück. Außerdem hatten wir ja ganze 14 Stunden für die Strecke (das hätte mich eigentlich stutzig machen sollen!), konnten uns also Zeit lassen und das Panorama genießen, was mir dank Schlechtwetters beim Mont-Blanc Marathon ja leider nicht vergönnt war.
Gesagt, getan: freitags dann auf nach Bourg-Saint-Pierre, dem letzten Ort vorm Großen Sankt Bernhard und Startort des Trails. Guter Beginn der Aktion: überraschenderweise lag mein Hotel gerade nur 10 m vom Start-/ Ziel-Bereich entfernt – besser geht es doch gar nicht! Schnell noch Startnummern abholen, eine Kleinigkeit essen, Rucksack packen und dann ab ins Bett – Start war schließlich um 5 Uhr morgens!
Kurz nach dem Start im Dunkeln beschloss ich dann endgültig, dass meine Stirnlampe (LED Lenser HR7) fürs Traillaufen bei Nacht wirklich nicht geeignet ist. Anfangs auf den breiten Forststraßen war das noch kein Problem, auf den ersten Single-Trails bergab musste ich mich höllisch konzentrieren, doch zum Glück wurde es ja bald hell! So kann man sich also trotz Testlauf im Gelände und auf der Straße täuschen mit so einer Lampe.
Nach der Dunkelheit kam dann für mich der erste steile Anstieg und mit ihm die Müdigkeit und der Regen…schon wieder Regen in den Bergen und immer mehr Regen. Der Mont Blanc Marathon war noch gut in Erinnerung ebenso wie Dawa Sherpas Tipp, die Regenjacke zur besseren Luftzirkulation über den Rucksack zu ziehen. Das ist Gold wert – allerdings auch etwas hinderlich, wenn man etwas aus dem Rucksack braucht. Nach 5 Minuten hatte ich dann endlich auch die Handschuhe rausgefummelt und über die nassen Hände gestrippt, denn mittlerweile war es doch schon recht kühl geworden auf 2.400 m. So langsam merkte ich dann auch die Höhe und es ging schon beschwerlicher weiter. Ein Läufer überholte mich und fragte, ob alles ok sei – jaja, kein Problem.
Bei km 16,5 war dann auch endlich die erste Verpflegungsstelle, die Cabane Mille, erreicht. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich in der Hütte kurz aufzuwärmen und ein wenig zu stärken. Dort traf ich auch den Läufer von vorhin wieder, und nach 10 Minuten Aufenthalt machten wir uns gemeinsam wieder auf den Weg. Doch beim Anstieg auf Mur Annibal musste ich ihn wieder ziehen lassen, denn kaum ging es steil auf über 2.500 m hoch, kamen die Höhenprobleme: Schwindel, Übelkeit und keine Kraft in den Beinen. Und das, obwohl ich gerade erst 2 Wochen in den französischen Alpen verbracht hatte…
Die ersten Kletterpassagen über nasses Blockwerk waren verdammt schwer und kosteten mich richtig Zeit – trotz meiner goldrichtigen Schuhwahl (La Sportiva Ultra Raptor). Endlich oben auf Mur Annibal angekommen, begegneten mir zwei Streckenposten, die mir den Vorschlag machten, ich könne ja wieder umkehren und aussteigen, wenn ich wollte. So verlockend das klang –ich dachte nur an den Maremontana Trail und lehnte dankend ab, schließlich lag ich ja noch gut in der Zeit. „Wie Sie wollen – jetzt geht es erstmal steil runter zum Azerin und dann kommt wieder ein Anstieg, der viel schlimmer ist, als das, was Sie gerade hoch gelaufen sind. Bei dem Nebel können wir keinen Helikopter rufen!“ Wie, was, Helikopter? Statt zu fliegen laufe ich lieber runter, passiere einen Weidezaun ohne Stromschlag, laufe durch eine Kuhherde und treffe endlich auch mal wieder auf einen Läufer, der wie ich vorher gerade am Kämpfen ist.
„Unten“ auf 2046 m, ging es mir schon wieder deutlich besser und an der Verpflegung erkundigte ich mich bei den Helfern nach dem weiteren Streckenverlauf. Leider sagten die auch nichts anderes als die davor: wirklich heftig nach oben! Der Läufer von vorhin war auch wieder da und meinte nur: „Oui, oui, c’est du Rock ’n’ Roll!“
Und ohja, jetzt wurde es wirklich heftig! Rock ’n‘ Roll! Immer mehr Kletterpassagen auf nassem Gestein, im Regen, Nebel und eisigem Wind. Immerhin hatte der Nebel auch etwas Gutes: ich konnte zumindest nicht den Abgrund hinunterschauen, an dem ich gerade vorbeiturnte. Keine Menschenseele weit und breit. Allein auf einem schmalen Grat auf über 2.700 m Höhe, Angst steigt in mir auf. „Vous êtes des assasins! Oui, des assasins!“ – „Ihr seid Mörder! Ja, Mörder!“ so schoss mir das berühmte Zitat vom ehemaligen Tour de France Sieger Octave Lapize durch den Kopf. Jetzt sind wir hier nicht beim Radsport, sondern beim Trailrunning und nicht am Col du Tourmalet, sondern auf der Pointe de Penne – aber passend fand ich es trotzdem irgendwie. Aus dem Nebel tauchte eine dunkle Gestalt auf – ein Streckenposten, dem Wetter entsprechend in ein langes schwarzes (!) Regencape gehüllt. Was für ein skurriles Bild! Hätte die Gestalt noch eine Sense in der Hand gehabt, hätte mich das mit Sicherheit nicht gewundert!
An dieser Stelle muss ich einmal sagen: Hut ab und danke an die ganzen freiwilligen Helfer, die stundenlang bei diesen miesen Wetterbedingungen in den Bergen ausharren mussten und dabei immer noch ein „Bravo!“ und ein freundliches Wort für die Läufer übrig hatten. Ich war froh, endlich wieder einem menschlichen Wesen zu begegnen – aber andere „Wege“ hätte es mir ruhig zeigen können. Denn nun ging es richtig ans Eingemachte! Nur noch über nasses Blockwerk und dazwischen mal ein paar Schneefelder – vor jedem Stein überlegte ich erneut, wo ich denn jetzt bloß meinen Fuß aufsetzen sollte auf der Strecke zum höchsten Punkt, der Cabane Valsorey auf 3030m. Eisiger Nebel, gruselige Einsamkeit und einfach nur noch kämpfen, kämpfen und kämpfen…und frieren. Bei gefühlten -4° C ging mir so langsam wirklich der Ofen aus – im wahrsten Sinne des Wortes. Nie zuvor hatte ich mit dem „Mann mit dem Hammer“ Bekanntschaft gemacht – hier lernte ich den „Mann mit dem Eispickel“ kennen! Noch ein paar Kletterpassagen mit letzter Kraft, und ein letztes Hindernis auf dem Weg zur Hütte: eine steile Schneewand, an der man sich per Seil hochziehen musste!
In der Hütte angekommen, wurde ich richtiggehend umsorgt: man half mir aus meinen Handschuhen und aus der nassen Jacke, trocknete meine Sachen am warmen Ofen, half mir, meine vereisten Finger und Füße wieder aufzutauen und reichte mir heiße Bouillon und Tee zur Stärkung. Auch meinen Begleiter von vorhin traf ich hier wieder! Nach ca. 30 Minuten fühlte ich mich dann wieder soweit, dass ich den Weg nach unten antreten konnte – zusammen mit zwei weiteren Läufern. Wir wurden vor die Wahl gestellt, auf direktem Weg nach Bourg-Saint-Pierre zu laufen oder den Trail komplett zu finishen – wir entschieden uns für Letzteres, wohl wissend, dass wir nun die Letzten waren – aber das war jetzt auch egal und nach dem letzten harten Anstieg hatten wir dann wenigstens die Entschädigung, bei aufklarendem Wetter den Gletscher zu sehen. Was für ein traumhaftes Bild!
Der Rückweg war nicht ganz ohne: über steinige, matschige Wege, durch Bäche und Wasserfälle, über ein paar Kletterpassagen – dann war auch endlich wieder Bourg-Saint-Pierre erreicht!
Im Ort erwartete man uns schon – und obwohl wir bereits über dem Zeitlimit von 14 Stunden (!) lagen, wurden wir noch gewertet – denn man hatte aufgrund des Wetters das Limit auf 15 Stunden erhöht!
Aber wir waren glücklich, es geschafft zu haben – denn das war nicht so selbstverständlich: 22% der Starter brachen das Rennen ab, auf der Halbmarathon-Distanz (!) waren es immerhin noch 15%. Und wenn wir auch mehr als doppelt so lange gebraucht hatten wie der Erste, der nach 6 Stunden ins Ziel lief – von den Einheimischen gab es echte Anerkennung für diese Leistung, dieses Ding geschafft zu haben!
Am nächsten Morgen beim Frühstück im Hotel traf ich dann den Läufer wieder, der mir beim Trail mehrmals begegnet war. Er fragte mich, ob ich vom höchsten Punkt aus abgekürzt hätte oder weitergelaufen sei. Ich antwortete ihm, dass ich es durchgezogen hätte. „Bravo!“ sagte er, „was hab ich gesagt – das ist Rock ’n’ Roll!“